Begegnung mit Komet Lemmon: Der eisige Bote aus der Tiefe des Alls

Komet Lemmon - KI Darstellung von FLUX

Die AIOLUS hing im Nichts, neunzig Millionen Kilometer von der Erde entfernt, die Bildwand zeigte einen grünlich leuchtenden Fleck vor dem schwarzen Hintergrund. Captain Chambers stand hinter Skellies Station und betrachtete die Sensordaten.

»Wie lange bis zum Intercept, Sergeant?«

Skellie hatte drei Finger über den Kontrollfeldern schweben, ihre großen Augen wechselten zwischen den holographischen Displays und der Bildwand. »Achtzehn Minuten, Sir. Relative Geschwindigkeit drei Kilometer pro Sekunde. Ich gleiche an.«

»Schön.« Chambers nickte zu CeCe hinüber. »Chief, ist die Sonde bereit?«

»Aye, Sir.« CeCe beugte sich über ihre Station, Finger tanzten über die Kontrollen. »Alle Systeme grün. Spektrometer kalibriert, Kamerasystem aktiv. Ich kann sie jederzeit aussetzen.«

Myers gähnte an seiner Waffenstation und reckte sich. »Einem Schneeball beim Schmelzen zusehen. Romantisch. Gibt’s Kaffee?«

»Später«, sagte Chambers.

»Immer später.« Myers seufzte.

AR-7 stand neben CeCes Station, seine Sensoren auf die Bildwand gerichtet. »Ein bemerkenswertes Objekt, Captain. C/2025 A6, auch Lemmon genannt. Nicht-periodischer Komet mit einer Umlaufzeit von über eintausendeinhundert Jahren. Ihre nächste Wiederkehr erleben wir nicht mehr.«

»Deshalb sind wir hier, AR-7.«

»Selbstverständlich, Sir.«

Die Bildwand zeigte den Kometen jetzt deutlicher. Ein diffuser, grünlicher Nebel, der sich langsam gegen die Sterne bewegte. In der Mitte, kaum erkennbar, ein dunklerer Kern.

»Das Grün kommt von Cyangas«, sagte CeCe. »Und diatomer Kohlenstoff. Typisch für Kometen aus dem Kuipergürtel.«

»Wie groß ist der Kern?«, fragte Chambers.

»Schwer zu sagen bei der Distanz. SAM schätzt vier bis fünf Kilometer Durchmesser. Wir kriegen bessere Daten, sobald die Sonde näher ran ist.«

Chambers verschränkte die Arme. »Skellie, können wir näher ran?«

»Vierzigtausend Kilometer, Sir. Näher wird riskant. Der Komet gibt Material ab. Staub, Eis, Gesteinsbrocken. Bei höherer Geschwindigkeit könnten wir Schaden nehmen.«

»Verstanden. Halten Sie vierzigtausend.«

Die AIOLUS schob sich langsam näher, ohne Beschleunigung, nur mit sanften Kurskorrekturen. Das Schiff vibrierte kaum merklich. Auf der Bildwand wuchs der Komet, wurde größer, Details traten hervor. Die Koma war nicht gleichmäßig. Heller hier, dunkler dort. Strukturen im Gas.

»Ich sehe Jets«, sagte Skellie leise. »Ausgasungen. Mehrere Quellen auf der sonnenzugewandten Seite.«

»Das bedeutet?«

»Der Kern rotiert. Alle paar Stunden werden andere Bereiche von der Sonne beschienen. Dann sublimiert das Eis. Wasserdampf, gefrorenes CO2, Methan. Alles schießt ins All.«

»Wie ein Geysir«, murmelte Myers.

»Genau wie ein Geysir, Sergeant Myers«, bestätigte AR-7. »Nur ohne Schwerkraft. Das Material fliegt einfach weg. Millionen Tonnen pro Tag.«

CeCe scrollte durch Daten. »Ich kriege erste Spektren. Wasser, wie erwartet. CO, CO2, Methan, Ammoniak. Und organische Moleküle. Aminosäuren.«

»Lebensbausteine«, sagte Chambers.

»Ja, Sir. Das hier ist ein Überbleibsel aus der Frühzeit des Sonnensystems. Viertausend Millionen Jahre alt. Damals, als die Planeten entstanden, gab es Milliarden solcher Brocken. Die meisten sind längst verschwunden. Aber dieser hier hat überlebt.«

Chambers starrte auf die Bildwand. Der Komet füllte jetzt die halbe Fläche. Die Koma war deutlich erkennbar, ein zarter Schleier aus Gas und Staub, der den Kern umhüllte wie Nebel einen Berg.

»Chief, setzen Sie die Sonde aus.«

»Aye, Sir.« CeCe tippte auf ihre Konsole. Ein leises Klicken hallte durch das Schiff, dann ein Zischen. »Sonde ist draußen. Initialsequenz läuft.«

Auf der Bildwand erschien ein kleines Symbol, ein weißer Punkt, der sich langsam vom Schiff entfernte. Die Sonde war kaum größer als eine Tonne Bier, vollgepackt mit Sensoren und Kameras. Keine Waffen, keine Besatzung. Nur Wissenschaft.

»Verbindung stabil«, meldete CeCe. »Telemetrie kommt rein. Die Sonde beschleunigt. Zielkurs zum Kern.«

»Wie lange bis zur Ankunft?«

»Sechsunddreißig Minuten.«

Chambers nickte. »Dann machen wir Kaffee.«

Siebenunddreißig Minuten später saßen sie wieder auf ihren Stationen. Myers hatte eine Tasse in der Hand und wirkte zufriedener. CeCe starrte konzentriert auf ihre Displays, während die ersten hochauflösenden Bilder von der Sonde eintrafen.

»Okay«, sagte sie leise. »Das ist… wow.«

Die Bildwand zeigte den Kometenkern in voller Pracht. Ein unregelmäßiger Brocken, schwarz wie Kohle, übersät mit Kratern und Spalten. An einigen Stellen leuchtete es hell auf. Jets aus Gas und Staub, die ins All schossen wie kleine Vulkane.

»Die Oberfläche ist extrem dunkel«, sagte CeCe. »Albedo unter fünf Prozent. Dunkler als Asphalt. Das ist uralter Kohlenstoff. Teer. Organische Rückstände von Milliarden Jahren.«

»Sieht aus wie ein verbrannter Kartoffel«, murmelte Myers.

»Keine schlechte Beschreibung«, sagte AR-7. »Die Form ist das Ergebnis von ungleichmäßiger Sublimation. Der Komet verliert Material, aber nicht gleichmäßig. Manche Bereiche sind härter, andere weicher. Mit der Zeit entstehen solche Formen.«

Skellie lehnte sich zurück, betrachtete die Bildwand mit ihren großen Augen. »Er rotiert langsam. Etwa zwölf Stunden pro Umdrehung. Die Rotationsachse ist gekippt. Deshalb sehen wir die Jets so deutlich.«

Die Sonde flog jetzt um den Kometen herum, schickte Bild um Bild. Die Kamera zoomte heran, zeigte Details. Hier eine tiefe Schlucht, hunderte Meter tief. Dort eine flache Ebene, übersät mit Gesteinsbrocken. Und überall die Jets. Helle Fontänen aus Gas, die ins Nichts schossen und im Sonnenlicht glitzerten.

»Das ist wunderschön«, sagte CeCe leise.

Chambers neigte den Kopf. »Wunderschön?«

»Ja, Sir. Das hier ist ein Fenster in die Vergangenheit. Dieser Komet war dabei, als die Erde entstand. Er hat gesehen, wie das Sonnensystem geboren wurde. Und jetzt fliegt er durch das innere System, nur für ein paar Wochen. Dann verschwindet er wieder. Für über tausend Jahre.«

»Romantisch«, sagte Myers trocken.

Aber er lächelte, und Chambers sah es.

Die Sonde flog tiefer, nur noch zehn Kilometer über der Oberfläche. Die Bilder wurden schärfer. Man konnte einzelne Felsen erkennen, Eisklumpen, Staubschichten. An einer Stelle ragte eine Formation auf, wie ein Turm. Hundert Meter hoch, schmal, fast zerbrechlich.

»Was ist das?«, fragte Chambers.

»Ein Sublimationsturm«, antwortete CeCe. »Der Komet verliert Material, aber dieser Turm ist härter. Widerstandsfähiger. Vielleicht mehr Gestein, weniger Eis. Mit der Zeit wird der Rest um ihn herum abgetragen, und er bleibt stehen.«

»Bis er umfällt.«

»Genau. Keine Schwerkraft bedeutet keine Stabilität. Irgendwann wird er einfach wegdriften.«

Die Sonde schwenkte, zeigte eine andere Perspektive. Jetzt sahen sie einen der Jets aus der Nähe. Eine Spalte, vielleicht fünfzig Meter breit, aus der Gas strömte. Es leuchtete im Sonnenlicht, ein heller Nebel, der sich ins All ergoss. Im Inneren der Spalte konnte man Eis sehen. Weiß, kristallin, unberührt.

»Das Innere ist noch gefroren«, sagte CeCe. »Nur die äußeren Schichten sublimieren. Darunter ist der Komet noch so, wie er vor Milliarden Jahren war. Absolut kalt. Absolut tot.«

»Bis die Sonne ihn aufweckt«, murmelte Skellie.

»Genau.«

Die Bilder kamen jetzt schneller. Die Sonde flog über die Oberfläche, kartierte jeden Quadratmeter. Hier eine glatte Fläche, dort eine zerklüftete. Einige Bereiche waren hell, andere dunkel. Manche schimmerten grünlich, andere rötlich.

»Die Farbunterschiede sind chemische Variationen«, erklärte CeCe. »Hier mehr Wasser-Eis, dort mehr gefrorenes CO2. Und das Grüne ist organisches Material. Kohlenstoffverbindungen. Die Bausteine von Leben.«

»Hat dieser Komet Leben auf die Erde gebracht?«, fragte Myers.

»Vielleicht. Oder einer wie er. Vor vier Milliarden Jahren bombardierten Milliarden Kometen die junge Erde. Sie brachten Wasser. Organische Moleküle. Alles, was Leben brauchte, um zu entstehen.«

»Dann verdanken wir diesem Ding unser Leben.«

»Diesem oder einem wie ihm. Ja.«

Myers starrte auf die Bildwand. »Fuck. Das ist heavy.«

Die Sonde flog weiter, erreichte die Nachtseite des Kometen. Hier war es dunkel, nur schwach beleuchtet vom Sternenlicht. Keine Jets, keine Ausgasungen. Alles war still, gefroren, tot.

»Temperatur minus zweihundert Grad«, meldete CeCe. »Auf der Tagseite sind es minus hundertfünfzig. Der Unterschied reicht, um das Eis zu destabilisieren. Deshalb gibt es die Jets nur dort.«

Die Sonde schwenkte zurück zur Tagseite, flog noch einmal über den großen Jet. Diesmal näher. Die Kamera zoomte heran, zeigte das Innere der Spalte. Und dort, tief unten, etwas Unerwartetes.

»Moment«, sagte CeCe. »Was ist das?«

Die Bildwand zeigte eine glatte Fläche. Zu glatt. Keine Krater, keine Risse. Nur eine ebene, fast polierte Oberfläche, die im Licht glänzte.

»Eis«, sagte AR-7. »Reines Wassereis. Keine Kontamination. Sehr selten bei Kometen.«

»Wie kann das sein?«, fragte Chambers.

»Vielleicht wurde diese Stelle erst kürzlich freigelegt. Durch Sublimation. Die äußeren Schichten sind weg, und jetzt sehen wir das ursprüngliche Material.«

»Es sieht aus wie Glas.«

»In gewisser Weise ist es das. Gefrorenes Wasser, kristallin strukturiert. Es reflektiert Licht wie ein Spiegel.«

Die Sonde flog weiter, kartierte noch mehr Bereiche. Aber nichts war so eindrucksvoll wie die Jets. Chambers konnte nicht wegsehen. Das Gas strömte ins All, leuchtete, verschwand. Millionen Tonnen Material, die einfach weggeblasen wurden. In ein paar Wochen würde der Komet die Sonne passieren, und die Aktivität würde noch stärker werden. Dann würde er sich entfernen, abkühlen, einschlafen. Für über tausend Jahre.

»Wie lange haben wir noch?«, fragte er.

»Die Sonde?«, fragte CeCe. »Noch zwei Stunden, dann ist der Speicher voll. Aber wir können sie länger draußen lassen, wenn Sie wollen.«

»Nein. Holen Sie sie zurück. Wir haben genug.«

»Aye, Sir.«

CeCe tippte auf ihre Konsole. Die Sonde schwenkte, änderte den Kurs, beschleunigte zurück zur AIOLUS. Der Komet schrumpfte auf der Bildwand, wurde kleiner, diffuser. Die Jets verblassten, die Details verschwanden. Bald war er wieder nur ein grünlicher Fleck, kaum mehr als ein Lichtpunkt.

Myers lehnte sich zurück. »Das war’s also. Schneeball kartiert.«

»Nicht nur ein Schneeball«, sagte CeCe leise. »Ein Zeuge. Viereinhalb Milliarden Jahre alt. Er war dabei, als alles begann.«

»Und jetzt fliegt er weiter. Allein. Für immer.«

»Nicht für immer. In tausend Jahren kommt er wieder. Vielleicht sind dann andere hier, die ihn beobachten.«

»Oder niemand.«

»Oder niemand.«

Chambers verschränkte die Arme, starrte auf die Bildwand. Der Komet war jetzt fast verschwunden, nur noch ein schwacher Schimmer. Aber die Bilder blieben. Die Jets, die Türme, das Eis wie Glas. All das war jetzt Teil ihres Wissens. Teil ihrer Geschichte.

»SAM«, sagte er leise. »Bereite den Bericht vor. Vollständige Datenübertragung ans Kommando. Inklusive aller Bilder.«

»Verstanden, Captain.«

»Skellie, setzen Sie Kurs zurück zum Rendezvous-Punkt.«

»Aye, Sir. Kurs berechne ich.«

Die AIOLUS drehte sich, schob sich langsam vom Kometen weg. Auf der Bildwand verschwand er endgültig, wurde eins mit den Sternen. Aber in CeCes Datenbanken, in AR-7s Speicher, in Myers‘ Erinnerung blieb er lebendig. Ein grünlicher Brocken aus Eis und Staub, der durchs Sonnensystem flog und niemals zurückkehrte.

Chambers drehte sich um, verließ die Brücke. Die Crew blieb zurück, still, nachdenklich. Draußen, Millionen Kilometer entfernt, flog der Komet weiter. Einsam, alt, wunderschön.

Und irgendwo, in tausend Jahren, würde er wiederkommen.

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