Stahl — SciFi Short Story

Eine Charakterstudie aus dem AIOLUS-Kosmos.

Bonus Short Story — Steel

1.

Luna Dock war ein Bienenstock aus Stahl und Energie. Magnetklammern hielten die Frachter fest, während Andockschläuche sich wie mechanische Tentakel um die Schiffe wanden. Wartungsdrohnen schwirrten zwischen den Rümpfen, und das konstante Summen der Lebenserhaltung mischte sich mit den akustischen Signalen der Dockroboter. Die AIOLUS lag in Bucht 7, eingesponnen in Versorgungsleitungen und Treibstoffschläuche – ein schwerer Aufklärer im Trockendock, bereit zur Revision.

Captain Richard Chambers stand in seiner Kabine vor der kleinen Wascheinheit und betrachtete sein Spiegelbild auf der polierten Oberfläche. Später Nachmittag nach Bordzeit, die Crew längst von Bord. Luna City wartete.

Er legte das Rasiermesser behutsam auf das kleine Handtuch. Ein Erbstück aus einer Zeit, als Männer noch Zeit für solche Rituale hatten. Der Griff aus dunklem Holz war glatt geschliffen von Jahrzehnten der Benutzung, die Klinge von seinem Großvater immer perfekt geschärft gehalten. Chambers öffnete sie mit einer geübten Bewegung und prüfte die Schneide im Licht.

»Sir?« SAMs Stimme erklang aus dem Kommunikationssystem, höflich aber bestimmt.

»Ja, SAM?«

»Statusbericht: Munition bei neunzig Prozent geladen. Deflektorschilde werden überholt, Fusionsreaktor im Wartungsmodus. Vorräte zu achtundsiebzig Prozent aufgefüllt.« Eine kurze Pause. »Die Dock-Crews arbeiten ordentlich. Keine Abweichungen.«

Chambers aktivierte die Wassertemperierung der Einheit und ließ warmes Wasser in die kleine Schale laufen. »Gut. Achte auf die Komponentenspezifikationen. Keine billigen Ersatzteile.«

»Verstanden, Sir. Quinn und Myers haben das Schiff verlassen. Richtung Sektor zwölf. Sie sprachen von der ›strukturellen Integrität der lokalen Alkoholvorräte‹.«

Chambers lächelte und tauchte den Rasierpinsel ins warme Wasser. »Das klingt nach Myers. Skellie?«

»Ist zu einem Museum für antike Navigationsinstrumente aufgebrochen. Chief Chang hat sich in die technischen Archive zurückgezogen.«

»Und du, SAM?«

»Ich werde die Systemdiagnose vertiefen und die Dock-Sicherheit überwachen. Genießen Sie Ihren freien Abend, Sir.«

Die Verbindung klickte ab, und Chambers war allein. Er arbeitete den Pinsel in der Seife zu dichtem Schaum und trug ihn gleichmäßig auf Wangen und Kinn auf. Die warme Feuchtigkeit entspannte die Haut, eine Vorbereitung für das, was kommen würde.

Das Rasiermesser lag schwer in seiner Hand. Eine Waffe, in gewisser Weise, aber eine, die Präzision und Geduld verlangte. Er zog die Klinge durch den Schaum, präzise wie immer.

Quinn und Myers, die vermutlich gerade die Bars von Luna City unsicher machten. Wie lange war es her, dass er selbst so jung und ungestüm gewesen war? Chambers pausierte einen Moment und betrachtete sein Gesicht auf der reflektierenden Oberfläche. Er sah die Jahre. Die Narbe am Kinn war geblieben, der Rest verblasst.

Aber er erinnerte sich. An andere Bars, andere Städte, andere Zeiten. Als er noch Ensign war und die ganze Galaxis vor sich zu haben schien.

Er war neunzehn gewesen, als er zum ersten Mal betrunken aus O’Malley’s Bar in Milwaukee gestolpert war. Minus dreißig Grad, der verfickte Lake Michigan wie eine endlose graue Eiswüste. Der Wind hatte ihm ins Gesicht geschlagen wie eine Faust aus gefrorenem Stahl. Sein Alter hatte ihn am nächsten Morgen beim Frühstück angesehen – nicht vorwurfsvoll, nur müde.

»Boy«, hatte der alte Chambers gesagt, während er sein eigenes Rasiermesser schärfte, »das Eis da draußen macht keine Gefangenen. Die Navy auch nicht. Wenn du meinst, du bist hart genug für beides, dann beweis es. Oder komm zurück in die Werft und schuftet weiter wie ein ehrlicher Mann.«

Richard hatte damals gedacht, er wüsste, was hart bedeutete. Sechzehn-Stunden-Schichten in der Werft, gefrorene Finger, der Gestank von Schweißgas und Motoröl. Die Kämpfe mit den Jungs aus den besseren Vierteln, die ihn »Dock-Ratte« nannten. Er hatte sich geirrt. Lake Michigan war nur ein Teich verglichen mit dem All. Aber die Lektion hatte gesessen: Respekt vor der Macht der Natur, vor dem, was größer war als du selbst.

Das Rasiermesser war noch dasselbe. Vater hatte es von Großvater geerbt, er von seinem Vater. »Echte Männer brauchen echte Werkzeuge«, hatte der Alte immer gesagt. »Alles andere ist Spielzeug.«

Chambers tauchte den Pinsel erneut ins warme Wasser und trug frischen Schaum auf die andere Gesichtshälfte auf. Die Navy Academy hatte ihm beigebracht, dass Spielzeug tödlich sein konnte, wenn man es falsch benutzte. Drei Jahre lang hatten sie versucht, den Milwaukee aus ihm herauszuprügeln. Salutieren, marschieren, »Aye, Sir« und »No, Sir« sagen, als wäre es eine Religion. Die Academy-Schnösel mit ihren sauberen Händen und Privatschulen hatten ihn »Dock-Ratte« genannt. Fuck them.

Er hatte es gelernt. Nicht weil er wollte, sondern weil er musste. Die anderen Kadetten kamen aus besseren Familien, sprachen geschliffener, kannten die ungeschriebenen Regeln. Chambers hatte rohe Kraft und die Sturheit eines Mannes, der wusste, was echte Arbeit bedeutete. Das reichte – gerade so.

Sie formten ihn zu einem Officer. Lehrten ihm Taktik, Führung, die Art, wie man Befehle gab und empfing. Aber sie konnten nicht das Lake Michigan Eis aus seinen Adern nehmen oder den Milwaukee Stahl aus seinem Rückgrat. Sie konnten nicht die Art ändern, wie er die Welt sah: direkt, ohne Umschweife, ehrlich.

»Ensign Chambers zeigt Führungsqualitäten – allerdings verbunden mit einem Hang zur Widerrede.«

Widerrede. Als wäre Denken eine Krankheit.

2.

Die Klinge kratzte über Chambers‘ Kinn, und er tauchte wieder ein in jenen Tag, der alles verändert hatte. Ensign Chambers, dreiundzwanzig Jahre alt, Communications Support Station auf der Brücke der USS DEFIANCE.

»Kontakt! Peilung null-vier-sieben! Thraxianische Meute formiert sich!«

Chambers‘ Hände flogen über die Kommunikationskonsole, leitete Meldungen von einem Dutzend Schiffen zur Brücke. Die DEFIANCE ging auf Kampfschub. Sechs-g-Burn, die Kompensatoren pfiffen. Chambers spürte das Gewicht auf seiner Brust, trotz der Dämpfungsfelder.

Auf dem taktischen Display: keine Formation, ein verdammter Mob. Dreißig schwere Brocken, zusammengeschweißte Kampfplattformen mit Clan-Zeichen. Totems des Clan Teox – blutrote Jaguar-Symbole auf rohem Stahl. Über Funk brach ihr Kriegsgebrüll herein, unverstehbar, guttural. Wie das Brüllen wilder Bestien, verstärkt und verzerrt. Die Bio-Kolosse – vier Meter große Killermaschinen aus Fleisch und biomechanischer Panzerung, eingepfercht in ihre primitiven Schiffe, warteten nur darauf, Unionsstahl aufzureißen und an Bord zu kommen.

»Alle Schiffe, Kampfformation Sierra-Sieben«, donnerte Captain Peterson von seinem Kommandosessel. Der Mann war eine Legende – kalt, präzise, unbesiegbar. Chambers hatte ihn bewundert. Bis heute.

»Sir, die PERSEUS meldet Antriebsausfall!« rief Lieutenant Leonescu von der Tac-Station. »Driften bei Vektor zwei-sieben-null!«

Peterson studierte das Display. »Entfernung zum Flaggschiff?«

»Dreitausendfünfhundert Kilometer, Sir.«

»Perfekte Position als Köder.« Peterson lehnte sich zurück. »Die Thrax-Meute wird anbeißen. Achthundert Mann für die Vernichtung des Clan-Führers. Akzeptabler Verlust.«

Chambers starrte ihn an. Der Mann hatte gerade die PERSEUS als Lockvogel abgeschrieben. Eiskalt. Kalkuliert.

Der erste Angriff der Thraxianer kam wie eine Sturmflut. Ihre Meute stürmte vorwärts, keine Taktik, nur instinktive Gewalt. Schwere kinetische Projektile – groß wie Shuttles – rasten durch das Vakuum. Rammspornen aus gehärtetem Clan-Stahl zielten auf die größeren Unionsschiffe. Die Stille des Alls kontrastierte grotesk mit dem Chaos auf der Brücke. Keine Geräusche der Explosionen draußen, nur das Vibrieren der Hülle, wenn Trümmer einschlugen.

»Deflektoren bei fünfundachtzig Prozent! Steuerbord-Sektor unter schwerem Beschuss!«

»Feuer frei! Alle Geschütztürme!«

Die DEFIANCE antwortete mit Plasmakanonen und Railguns. Blauweiße Energielanze durchschlugen primitive Panzerung, kinetische Geschosse zerrissen kleinere Thraxianer-Jäger. Ein feindlicher Rammbock – ein hämmerndes, kantiges Monstrum mit Clan-Camul-Totems – explodierte in einem Schwall glühender Metalltrümmer.

Chambers duckte sich instinktiv, als etwas gegen die Hülle schlug. Die Brücke vibrierte, Displays flackerten. Warnsirenen heulten.

»Hüllenbruch auf Deck sieben! Druckabfall! Medical Teams zu Sektor Charlie!«

Er leitete die Meldung weiter, seine Finger mechanisch über die Kontrollen tanzend. Menschen starben da unten. Menschen, die er kannte. Und über Funk immer noch das Kriegsgebrüll der Thraxianer-Meute, gemischt mit Schmerzensschreien der Verwundeten auf der eigenen Frequenz.

»Scheiße, die rammen uns!« Leonescu riss an seiner Konsole. »Ausweichmanöver!«

Ein Thraxianer-Kampfbrocken schrammte an der DEFIANCE vorbei, Metallsplitter flogen durch das Vakuum.

»DEFIANCE, hier Admiral La Fresnoy. Rückzug auf Position Tango-Vier.«

Peterson ignorierte die Meldung. »Haupttriebwerke, volle Kraft. Direkter Kurs auf das thraxianische Flaggschiff. Das verdammte Ding des Ahau Tlamoc.«

»Sir? Das ist ein direkter Befehl vom Admiral.«

Peterson drehte sich um. Seine Augen waren wie arktisches Eis. »Ensign, Sie haben Ihre Aufgaben. Erfüllen Sie sie. Oder ich lasse Sie wegen Feigheit vor dem Feind erschießen.«

Fuck. Chambers schluckte und wandte sich wieder seiner Konsole zu.

Die DEFIANCE raste vorwärts, direkt ins Herz der feindlichen Meute. Das thraxianische Flaggschiff war ein Monstrum aus Clan-Stahl – ein primitiver Koloss, groß wie ein Asteroidenbrocken, übersät mit Geschütztürmen, Rammspornern und blutigen Jaguar-Totems. Darin: hunderte der Bio-Kolosse, vier Meter hohe Killermaschinen, deren Kriegsgebrüll jetzt ohrenbetäubend über alle Frequenzen dröhnte.

»Deflektoren bei sechzig Prozent!«

»Vierzig Prozent! Verdammt, die Bastarde hauen alles raus!«

»Verlust der Backbord-Geschütze!«

Es war kein Gefecht mehr. Es war ein Mahlstrom aus Stahl und Feuer, verteilt über tausende Kubikkilometer Raum. Chambers konnte nicht verstehen, warum sie nicht längst tot waren. Die Thraxianer-Schiffe umzingelten sie wie ein Rudel wilder Tiere. Ihre schweren Projektile durchschlugen die Deflektoren durch pure kinetische Masse.

Peterson manövrierte die DEFIANCE wie einen Jäger, nicht wie einen Schlachtkreuzer. Enge Kurven, unvorhersagbare Wendemanöver. »Diese primitiven Bastarde können nur geradeaus denken«, murmelte er. »Clan Teox will brennen? Dann geben wir ihnen Feuer.«

»Sir, die PERSEUS ist vernichtet!« Chens Stimme überschlug sich. »Die Bio-Kolosse sind an Bord gegangen und…« Er würgte. »Mein Gott.«

Achthundert Mann. Zerrissen von vier Meter großen Bestien. Chambers sah das Schiff in der Ferne, aufgebrochen wie eine Konservendose. Seine Hände zitterten über der Konsole.

»Noted.« Petersons Stimme war ruhig wie stilles Wasser. »Konzentration auf das Flaggschiff. Quantentorpedos scharf machen.«

Das thraxianische Flaggschiff – der Stolz des Ahau Tlamoc Cizin. Ein Monster aus zusammengeschweißtem Stahl, dreimal so groß wie die DEFIANCE. Seine primitiven Geschütze spuckten Feuer in alle Richtungen, koordinierten die gesamte Meute durch Pheromon-Signale und Kriegsgebrüll.

»Torpedos scharf! Zielerfassung läuft!«

Die DEFIANCE schoss wie ein Pfeil direkt auf das Flaggschiff zu. Chambers sah den Tod auf sie zukommen – kinetische Geschosse, groß wie Häuser, rasten durch das Vakuum. Ein Treffer am Bug, die Hülle ächzte. Ein weiterer am Heck, Explosionen auf drei Decks.

»Deflektoren ausgefallen!«

»Hüllenbrüche auf allen Decks! Fuck, fuck, fuck!«

»Medic zur Brücke! Leonescu ist getroffen!«

Chambers drehte sich um. Lieutenant Leonescu lag am Boden, Blut sickerte aus einer Kopfwunde. Metallsplitter steckten in seiner Schulter. Niemand kümmerte sich um ihn. Alle starrten auf die Displays.

Dreitausend Meter zum Ziel. Zweitausend. Tausend.

»Feuer!«

Sechs Quantentorpedos verließen die DEFIANCE in einer perfekten Salve. Antimateriesprengköpfe, jeder mit der Kraft einer kleinen Sonne. Sie schlugen in das thraxianische Flaggschiff ein wie die Faust eines Gottes. Die ersten Explosionen rissen Löcher in den massiven Rumpf, schmolzen Clan-Stahl zu Plasma. Die folgenden fanden die Reaktorkammern.

Das Flaggschiff verschwand in einem Blitz aus gleißendem Licht. Die Bio-Kolosse darin – Ahau Tlamoc Cizin und seine Elite-Meute – verdampften in Sekundenbruchteilen. Trümmer primitiver Konstruktion, verkohlte Totems und geschmolzener Stahl trieben durch das All.

Stille. Für einen Moment herrschte absolute Stille auf der Brücke. Dann begannen die thraxianischen Schiffe ihre Formation aufzulösen. Ohne ihren Ahau, ohne Koordination durch das Flaggschiff, wurden aus der Meute wieder einzelne, verwirrte Rudel. Das Kriegsgebrüll über Funk verstummte, ersetzte sich durch panische Rufe. Sie wichen zurück, dann flohen sie.

»Feindkontakte brechen ab! Sir, wir haben gewonnen!«

Gewonnen. Chambers starrte auf die Trümmerfelder um sie herum. Die PERSEUS mit achthundert Mann, von Bio-Kolossen zerrissen. Die TRIUMPH, ein halbes Dutzend anderer Schiffe. Tausende von Toten. Gewonnen.

Peterson stand auf, glättete seine Uniform. Blut – Leonescus Blut – klebte an seinem Stiefel. Er beachtete es nicht. »Communications, Verbindung zum Admiral. Meldung: Thraxianer-Flaggschiff vernichtet, Meute zerstreut, Position gehalten.«

Chambers führte den Befehl aus, mechanisch, leer. Seine Gedanken kreisten. Fuck Peterson und seine Heldenscheiße. Der Mann hatte sie alle in den sicheren Tod geführt – und sie gerettet. Wie? Warum?

Später, auf der Krankenstation, während er Chens Hand hielt und zusah, wie die Medics um Leonescus Leben kämpften, verstand er es immer noch nicht. Die Schreie der Verwundeten mischten sich mit dem Summen der medizinischen Geräte. Jemand fluchte durchgehend, monoton, als könnte er damit den Schmerz vertreiben.

Peterson wurde nach der Schlacht zum Admiral befördert. »Held der Thraxianer-Kriege«, nannten sie ihn. Chambers sah ihn Jahre später bei einer Zeremonie wieder, die Brust voller Orden, umgeben von bewundernden Stabsoffizieren.

»Achthundert Mann für das Flaggschiff«, hatte Peterson zu einem Reporter gesagt. »Ein akzeptabler Tausch. Krieg ist Mathematik, keine Poesie.«

Chambers war rausgegangen und hatte sich übergeben.

3.

Chambers spülte das Rasiermesser in der warmen Schale und klappte es zu. Die Klinge verschwand im vertrauten Holzgriff, sicher verwahrt bis zum nächsten Morgen. Wie viele Jahre hatte er als Ensign verbracht und sich jeden Tag gefragt, ob das sein Leben bleiben würde?

Sieben Jahre. Sieben verdammte Jahre auf Patrouillenkreuzern und Versorgungsschiffen, immer der gleiche Rang, immer die gleichen Aufgaben. »Der Dock-Arbeiter, der denkt, er wäre was Besseres«, hatte er mal einen Lieutenant über sich sagen hören. Seine Vorgesetzten behandelten ihn wie einen begabten, aber unzuverlässigen Hund. »Chambers hat Potenzial, aber…« Das »aber« verfolgte ihn durch jede Beurteilung, jede Beförderungsrunde, jede Versetzung.

Er wischte sein Gesicht mit dem Handtuch ab und betrachtete sich im matten Glanz der Stahlplatte. Damals, mit dreißig, hatte er schon graue Strähnen gehabt. Nicht vom Alter – von der Resignation. Von der Erkenntnis, dass brillante Taktiker wie Peterson tausende opfern konnten und dafür befördert wurden, während er für eine einzige kritische Frage Jahre lang bestraft wurde.

Dann kamen die Satari.

Plötzlich war alles anders. Die Union brauchte jeden erfahrenen Officer, jeden Mann, der kämpfen konnte. Die sauberen Karrierewege der Academy-Schnösel brachen zusammen, als die fremden Schiffe aus dem Nichts auftauchten und ganze Systeme verwüsteten. Chambers wurde von einem vergessenen Ensign auf einem Versorgungsschiff zu einem Lieutenant Commander auf einem Kampfkreuzer befördert – innerhalb von sechs Monaten.

Die Satari waren anders als die Thraxianer. Keine wilde Brutalität, keine Meuten, keine Kriegsgebrülle. Stattdessen: kalte Effizienz, Schiffe, die sich bewegten wie Gedanken, asymmetrische Taktiken, die niemand vorhersehen konnte. Ihre Technologie war der menschlichen überlegen, ihre Motive unergründlich. Aber sie kämpften wie Schachspieler, nicht wie Bestien. Und das konnte Chambers verstehen.

Bei Newport IV, als ihr Kreuzer von drei Satari-Schiffen eingekesselt wurde, hatte er zum ersten Mal seit Jahren die richtige Entscheidung zur richtigen Zeit getroffen. Nicht durch den Befehl seines Captains, sondern trotz ihm. Ein spontanes Flankenmanöver, das die feindliche Formation sprengte und vierhundert Leben rettete. Später, in der Nachbesprechung, hatte sein Captain nur genickt: »Gute Arbeit, Commander. Sie denken wie ein Werftarbeiter – praktisch.«

Es war als Beleidigung gemeint gewesen. Chambers hatte es als Kompliment genommen.

Nach Proxima, nach Tau Ceti, nach den blutigen Kämpfen um die Außenposten, stand er plötzlich vor einer Wahl. Das Ausbildungsprogramm für Schlachtkreuzer-Captains oder das Kommando über den Aufklärer AIOLUS.

»Das Programm dauert zwei Jahre«, hatte Admiral La Fresnoy erklärt und dabei einen Datenspeicher jongliert, ohne aufzusehen. La Fresnoy war ein Bürokrat im Admiral-Anzug, einer dieser Academy-Typen, die die letzten fünf Jahre hinter einem Schreibtisch verbracht hatten. »Aber danach haben Sie Aussichten auf echte Großkampfschiffe. Feuerkraft für drei Sektoren. Sie wären im Zentrum der Hauptkampflinie.«

Zwei Jahre. Chambers hatte innerlich gelacht. Sieben Jahre hatte er als Ensign verschwendet, war lange genug Schüler gewesen. Und »echte« Schiffe? Fuck that. Die AIOLUS war real genug.

»Ich nehme die AIOLUS«, hatte er gesagt.

La Fresnoy hatte aufgeblickt, seine antike Lesebrille zurechtgerückt – eine dieser affektierten Gesten, die Academy-Typen liebten. »Sie sind sicher? Das Programm würde Ihre Karriere machen. Die AIOLUS ist ein kleines Schiff. Wenig Prestige, ständige Einsätze, beschissene Quartiere und mindestens doppelt so hohe Wahrscheinlichkeit, draufzugehen.«

»Ich bin sicher.«

La Fresnoy hatte achselzuckend unterschrieben. Für ihn war es nur ein weiteres Formular. Für Chambers war es Freiheit.

Chambers öffnete den kleinen Kleiderschrank und zog seinen dunkelblauen Anzug heraus. Kein Schnickschnack, keine modischen Extravaganzen – klassischer Schnitt, gute Qualität, zeitlos. Wie das Rasiermesser. Manche Dinge änderten sich nicht, auch nicht in zweihundert Jahren.

Er zog das Hemd an, schloss die Manschettenknöpfe – schlichtes Iridium, nichts Auffälliges – und legte die Krawatte um. Seine Bewegungen waren präzise, automatisch. Rituale gaben dem Leben Struktur, besonders nach all den Jahren.

Die AIOLUS war die richtige Entscheidung gewesen. Sechs Jahre als ihr Captain hatten es bewiesen. Zwölf Mann und Frauen, die er kannte, denen er vertraute, die ihm vertrauten. Keine anonyme Masse von achthundert Seelen, die er für taktische Vorteile opfern musste. Echte Menschen mit Namen, Geschichten, Macken.

Skellie mit ihrer unmöglichen Navigation, die Subraum-Ströme spüren konnte wie andere Leute den Wind. CeCe mit ihren technischen Geheimnissen und ihrer stillen Stärke. Quinn mit seinen kybernetischen Händen und seinem bitteren Humor. AR-7, der verdammte Roboter, der mehr Mensch sein wollte als die meisten Menschen. Myers mit seinem ewigen Gefluche und seiner unerschütterlichen Loyalität – der Bastard würde in die Hölle marschieren, wenn Chambers es befahl. SAM, die über alle wachte wie eine digitale Mutter.

Sie waren seine Familie geworden. Nicht die Navy, nicht die Union, nicht die verdammten Academy-Schnösel, sondern diese Handvoll verrückter Seelen auf einem kleinen grauen Schiff. Seine Crew. Seine Leute.

Chambers justierte seine Krawatte und betrachtete sein Spiegelbild ein letztes Mal. Der junge Ensign von damals war verschwunden, die »Dock-Ratte« aus Milwaukee hatte überlebt. Ersetzt durch einen Mann, der wusste, wer er war und was er wollte. Kein Admiral wie Peterson, kein Held der Union, kein legendärer Schlachtenlenker mit Orden auf der Brust.

Nur Richard Chambers. Captain der AIOLUS. Werftarbeiter-Sohn aus Milwaukee, der gelernt hatte, dass die besten Siege nicht die waren, die in den Geschichtsbüchern standen, sondern die, bei denen alle nach Hause kamen. Keine achthundert Toten für taktische Vorteile. Keine »akzeptablen Verluste«.

Er aktivierte die Kabinenbeleuchtung auf Minimum, nahm sein Jackett und verließ das Schiff. Luna City wartete. Vielleicht würde er Myers und Quinn begegnen, betrunken und laut in irgendeiner Bar, fluchend über thraxianisches Bier und die schlechte Bezahlung. Vielleicht würde er einen ruhigen Abend allein verbringen, mit einem guten Buch und einem besseren Whisky.

Es spielte keine Rolle. Morgen würde die AIOLUS wieder fliegen, und er würde sie führen. Keine Helden-Scheisse, keine großen Gesten. Nur ein alter Aufklärer mit einer zusammengewürfelten Crew, die ihren Job machte und am Ende des Tages noch lebte.

Fast alles, was er je gewollt hatte.

Nur manchmal, in ruhigen Momenten wie diesem, fragte er sich noch, ob Peterson die achthundert Toten der PERSEUS je gezählt hatte. Ob er ihre Namen kannte. Ob er nachts davon träumte, wie die Bio-Kolosse sie zerrissen.

Wahrscheinlich nicht. Krieg war Mathematik für Männer wie Peterson. Keine Poesie.

Für Chambers war es beides. Und das machte den ganzen verdammten Unterschied.


Über das AIOLUS-Universum:
Ein militärisches Science-Fiction-Setting mit realistischem Raumkampf, vielschichtigen außerirdischen Gegnern und dem harten Alltag professioneller Soldaten, die die Kriege der Menschheit unter den Sternen austragen. Die AIOLUS und ihre Crew übernehmen gefährliche Aufklärungsmissionen – und kämpfen zugleich mit den seelischen Belastungen eines endlosen Konflikts.